Wir veröffentlichen an dieser Stelle einen Text der von einer Gruppe afghanischer Menschen in Trier, die einen Dublin-Bescheid haben, verfasst wurde:
„Alle fünf Finger sind anders“
Stimmen junger afghanischer Flüchtlingen zu ihrer Situation in Deutschland und Europa
Die Situation in Afghanistan
Wenn es Menschenrechte in Afghanistan gäbe, wäre wir nicht von dort geflohen. Viele von uns haben im Militär gegen die Taliban gekämpft. Andere waren Polizisten, um die Bevölkerung vor ihnen zu schützen. Mit der Machtübernahme der Taliban hat sich alles verändert. Viele von uns wurden gesucht, viele wurden ermordet. Unser Leben dort war vorbei. Wir hatten nur eine Wahl – Sterben oder Fliehen. Niemand wird sein Heimatland freiwillig verlassen. Wir haben unsere Familie zurückgelassen, unseren Besitz, unser Leben.
Wir haben so viel dafür getan, hierher zu kommen, wir haben so viel zurück gelassen, so hart dafür gearbeitet, um einen sicheren Ort zu finden, an dem Menschenrechte angeblich noch zählen.
Auf der Flucht gab es so viele Gefahren, Erniedrigungen.
Die Situation in Dublin-Ländern
Wir wollen euch erzählen von unseren Erlebnissen in den verschiedenen Ländern, in denen wir waren und zu denen wir zurückgeschickt werden sollen. Wir wollen aufklären über die Zustände dort.
Wir wurden von der Polizei geschlagen in Kroatien. Uns wurde gedroht: „Wir nehmen deinen Fingerabdruck oder schieben dich ab nach Afghanistan.“ Wir wurden auch verprügelt in Bulgarien. Wir haben monatelang obdachlos in Belgien gelebt. Ich zum Beispiel habe vier Jahre lang dort gelebt, die Sprache gelernt, gearbeitet, eine Ausbildung abgeschlossen und Steuern gezahlt. Dann wurde mein Asylantrag abgelehnt. Ich wurde mit allem, was ich hatte, auf die Straße gesetzt und war von einem Moment auf den anderen obdachlos. Ich hatte keine Rechte, keine Perspektive, alles war weg. Ich sollte nach Afghanistan abgeschoben werden. In Afghanistan erwartet uns der Tod. Ich habe Angst, nach Afghanistan zurück zu müssen. Dann bin ich nach Deutschland geflohen.
Andere von uns waren in Griechenland. Auch dort wurden wir verprügelt. Die Menschen dort akzeptieren Flüchtlinge nicht. Wir wurden dazu gezwungen, unsere Fingerabdrücke abzugeben. Wir waren dort, mehrere Monate, erst im Camp, ohne Dusche, ohne Toilette, ohne Ärzte, dann obdachlos. Es gibt keine Hilfe, man wird allein gelassen. Ein Freund von mir wurde nach Griechenland abgeschoben. Er kam ins Gefängnis, er wurde geschlagen, ihm wurde seine Kleidung abgenommen.
Ich war neun Jahre lang in Schweden. Ich habe eine Ausbildung dort gemacht und gearbeitet. Auf einmal habe ich einen Brief bekommen, in dem stand, dass ich das Land verlassen muss.
Wir hatten in den Ländern kein Recht zu leben, zu lernen, zu arbeiten.
Wir können nicht in diese Länder zurückgehen. Überall sind wir unerwünscht.
Man muss mit so viel Gewalt umgehen. In Afghanistan, auf dem Fluchtweg, in Europa. Wir mussten mit Gewalt unsere Fingerabdrücke abgeben.
Die Gewalt in diesen Ländern ist groß. Sie wissen genau, was sie tun. Sie haben Mittel, um uns Angst zu machen, zu erniedrigen, zu vertreiben. Wir haben keine Rechte, keinen Schutz. Und die Gewalt wird nach jeder Abschiebung so weitergehen.
Wir haben Alpträume von unseren Erlebnissen in den genannten Ländern, selbst ohne Dublin. Was bleibt einem anderes übrig, als nach einer Abschiebung wieder hierher zu kommen und es erneut zu versuchen? Was bleibt uns anderes übrig? Man kommt wieder, das Leid geht weiter. Die Spirale geht weiter. Es muss doch klar sein und gesehen werden, dass es in den ganzen Orten keine Möglichkeit auf ein menschenwürdiges Leben gibt.
Hier in Deutschland heißt es, in den anderen Ländern bekämen wir genug Hilfe, es sind ja EU-Länder. Dort gäbe es Hilfsstrukturen, medizinische Versorgung, ein Dach über dem Kopf. Aber das ist nicht wahr! Wir wissen es genau, wir haben es am eigenen Leib erfahren. Und sie wissen es auch. Das Trierer Verwaltungsgericht weist uns sogar darauf hin, dass wir ruhig eine Zeit lang obdachlos leben können. Es sagt sogar ganz klar, wir sollen uns einfach Arbeit auf dem Schwarzmarkt suchen. Wie kann das sein?
Alle fünf Finger sind anders
In Afghanistan gibt es eine Redewendung: Alle fünf Finger an der Hand sind unterschiedlich.
Nicht alle Afghanen sind gleich. Jemand hat etwas falsch gemacht, jetzt müssen wir dafür bezahlen.
Wir wissen, dass wir jetzt in einem anderen Land leben. Wir respektieren alle Menschen. Egal welcher Religion sie angehören, ob sie überhaupt einer Religion angehören. Wir respektieren alle Lebensformen, wir respektieren LGBTQ-Personen.
Der Attentäter in Mannheim ist kein Afghane für uns. Den Messerangriff in Solingen im Namen des Islam verurteilen und verabscheuen wir zutiefst. Solche Menschen finden wir nicht gut. Und sie bringen uns allen in einen schlechten Ruf. Bitte vergesst nicht, dass auch wir vor Islamisten geflohen sind. Bitte vergesst nicht, dass der allergrößte Teil von uns friedlich, respektvoll und tolerant ist.
Wir achten aufeinander, wir reden mit Menschen, die auf die schiefe Bahn geraten. Wir sprechen ganz Deutschland unser Beileid für diese schrecklichen Vorfälle aus.
Auf der ganzen Welt gibt es solche und solche Menschen. Man muss unterscheiden können.
Die allermeisten Menschen hier wollen sich integrieren.
Deutschland: Angst im Camp
Die Angst. Jede Nacht haben wir Angst. Heute Morgen war die Polizei hier.
Vor ein paar Tagen wurden Freunde von mir abgeschoben. Die ganze Nacht können wir kein Auge zu machen, voller Stress im Körper. Die Polizei kommt nicht immer in Uniform, sie kommt manchmal auch in Zivil. Wie kann ich so zu einem Deutschkurs gehen oder arbeiten? Wir leben wochen- und monatelang mit dieser Angst. Immer haben wir Angst, nie Ruhe. Das nützt niemanden etwas, niemand kann mit kranken Menschen etwas anfangen.
Wir wünschen uns, kein Dublin zu haben, hier bleiben zu können und eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Wir würden uns auch in anderen Ländern in Europa integrieren. Doch dort droht uns Gewalt, Abschiebung, Rechtlosigkeit. Haben wir nicht auch ein Recht auf Sicherheit, auf Würde, auf ein Leben?
Wir fühlen uns wie Gefangene, obwohl wir keine Gefangenen sind.
Die Angst wird noch lange in uns leben bleiben, auch wenn wir es schaffen und ins nationale Verfahren kommen.
Wer wir sind und was wir wünschen
Wir suchen einen Ort, an dem wir Rechte haben können, an dem wir endlich zur Ruhe kommen können.
Wir wollen einfach nur Ruhe finden. Wir wollen arbeiten, eine Ausbildung machen.
Alles, was wichtig ist für uns, ist eine Gelegenheit zu bekommen, eine Ausbildung zu machen. Wir wollen kein Geld vom Staat. Wir wollen etwas zurück geben von dem, was wir hier bekommen. Niemand will so ein Leben führen, wie wir es gerade haben.
Wir sind jung. Wir wollen nicht unser Leben einfach so wegwerfen. Wir wollen arbeiten, wir wollen helfen. Bitte helfen Sie uns dabei
Ergänzungen zum Text:
Der SWR hat schon berichtet:
Flüchtlinge in Trier: Schlaflose Nächte wegen Dublin-Verfahren
Was ist das Dublin-System?
Das Dublin System existiert schon seit 1997 und ist in der dritten Version seit 2014 das aktuelle Gesetz. Im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ist es in der EU, Island, Norwegen, Liechtenstein und der Schweiz gültig. Bevor Asylsuchende in einem Land Asyl beantragen können, soll durch das Verfahren geregelt werden, welches Land für die Asylprüfung zuständig ist. Dadurch ist eingegrenzt, wo wir Asyl beantragen dürfen und wo wir nicht bleiben können. Meist gilt das Kriterium der Ersteinreise: Wir dürfen nur in dem Land Asyl beantragen, in dem wir als erstes angekommen sind und kontrolliert wurden. Diese Länder sind meist Länder mit EU-Außengrenze, also Kroatien, Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Polen, Ungarn, der Slowakei und Spanien. Da Deutschland umringt ist von EU-Staaten, dürfte am Ende niemand hier Asyl beantragen.