Appell an die Bundesregierung zu ihrer Position zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems: Keine Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes

Europaweit arbeiten politische und gesellschaftliche Strömungen auf die weitgehende
Abschaffung des Flüchtlingsschutzes hin. Sie stellen die Allgemeingültigkeit von
Menschenrechten, rechtsstaatlichen Grundsätzen und europäischen Werten infrage. Gleichzeitig beobachten wir einen massiven Anstieg und die billigende Inkaufnahme von gewaltsamen und menschenunwürdigen Handlungen gegenüber Schutzsuchenden, insbesondere an den Außengrenzen der Europäischen Union. Verstöße gegen geltendes Recht werden teils gar nicht mehr oder nur unzureichend verfolgt.

Die unterzeichnenden Organisationen sind enttäuscht über die am 28. April 2023 öffentlich
gewordene deutsche Position der Bundesregierung zur Reform des Gemeinsamen
Europäischen Asylsystems (GEAS). Anstatt sich dem Trend der Entwertung europäischer
Grund- und Menschenrechte und der Erosion rechtsstaatlicher Grundsätze entschieden
entgegenzustellen, signalisiert die Regierung mit ihrer Position die Bereitschaft, diesen Weg um jeden Preis mitzugehen. Damit gerät sie in eklatanten Widerspruch zu zentralen Versprechen des Koalitionsvertrags. (Dort heißt es: „Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden”, „Wir wollen bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren und bei der Integration in den EU-Staaten“, „Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.“)
Durch die beabsichtigte Zustimmung der Regierung zu verpflichtenden Grenzverfahren ist zu
erwarten, dass Standards bei der Prüfung von Schutzgesuchen in der EU so stark abgesenkt
werden, dass keine fairen Verfahren mehr zu erwarten sind – zumal diese in Kombination mit der Anwendung des Konzepts der “Fiktion der Nicht-Einreise“ absehbar unter Haft oder
haftähnlichen Bedingungen erfolgen werden. Unterstützt die Ampel-Koalition die Absenkung der Anforderungen an sogenannte „sichere Drittstaaten”, bricht sie ihr Versprechen, jedes
Asylgesuch inhaltlich zu prüfen. Asylanträge könnten so pauschal als unzulässig abgelehnt und Schutzsuchende ohne inhaltliche Prüfung ihres Schutzbegehrens in einen Drittstaat
abgeschoben werden. Das bedeutet einen Rückzug aus dem Flüchtlingsschutz in der
Europäischen Union, vergleichbar mit dem deutschen Asylkompromiss vor dreißig Jahren.

Die aktuellen Reformvorschläge rütteln nicht nur an den Grundfesten des Rechtsstaates,
sondern werden auch bereits existierende Probleme des europäischen Asylsystems noch
verschärfen. Die Verantwortung für die Durchführung von Asylverfahren bliebe weitgehend bei
den Außengrenzstaaten, was schon jetzt zu ihrer Überlastung und der Nichtanwendung von
bestehenden Regelungen, zu starken Verzögerungen beim Zugang zum Schutz sowie zu
gravierenden Menschenrechtsverletzungen führt. Lediglich geringfügige Veränderungen an
einem dysfunktionalen System können daran nichts ändern. Stattdessen sollte lieber durch
Deutschland mit Nachdruck an einer solidarischen Aufnahme von Ankommenden in der EU
gearbeitet werden, welche die Rechte und Bedürfnisse der Schutzsuchenden stärker in den
Mittelpunkt stellt.
Im Vorfeld des kommenden Treffens der EU-Innenminister*innen am 8. Juni 2023
appellieren wir an die Bundesregierung, ihrer humanitären Verantwortung gerecht zu
werden und ihren eigenen Koalitionsvertrag ernst zu nehmen:
1. Für menschenwürdige und faire Asylverfahren: Keine verpflichtenden
Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen!
2. Für Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union: Keine Absenkung der
Anforderungen an “sichere Drittstaaten”!
3. Für echte Solidarität in der Flüchtlingsaufnahme: Keine Weiterführung des
gescheiterten Dublin-Systems!

Menschenwürdige und faire Asylverfahren statt verpflichtende Grenzverfahren
Die Ausweitung der Grenzverfahren, die mit dem Vorschlag der Asylverfahrensverordnung
verpflichtend werden sollen, lässt erwarten, dass sich die humanitären Missstände an den EU-
Außengrenzen noch verschärfen und der Flüchtlingsschutz durch absehbare Verfahrensmängel weiter untergraben wird. Schon heute sind Asylverfahren an den Grenzen mit systemischen Mängeln behaftet. In den geschlossenen Lagern auf den griechischen Inseln beispielsweise besteht weder eine ausreichende medizinische Versorgung noch haben Anwältinnen und Anwälte gesicherten Zugang zu den Menschen. Die Qualität und damit die Rechtssicherheit der Verfahren leiden, wenn Personen innerhalb kürzester Zeit und unter menschenunwürdigen Bedingungen ihre Fluchtgründe vortragen müssen. Das Erzählen einer Verfolgungsgeschichte bedarf des Vertrauens und eines geschützten Raumes – dies ist in Grenzverfahren in der Regel nicht möglich.
In Kombination mit der Fiktion der Nicht-Einreise werden Grenzverfahren zudem voraussichtlich zu Inhaftierungen an den EU-Außengrenzen führen. Dass die Bundesregierung Minderjährige von der Haft ausnehmen will, ist zu begrüßen, reicht jedoch nicht. Denn die Inhaftierung von Schutzsuchenden allein aufgrund ihres Schutzgesuches ist menschenrechtlich grundsätzlich nicht hinnehmbar, auch und insbesondere, weil dies gegen die Grundfeste der Genfer Flüchtlingskonvention verstößt.
Die unterzeichnenden Organisationen fordern die Bundesregierung daher auf, gegen die
Einführung von verpflichtenden Grenzverfahren zu stimmen. (Im Übrigen würde eine staatliche Verpflichtung, Grenzverfahren einzuführen, auch eine komplette Neuregelung des im Aufenthaltsrecht verankerten deutschen Flughafenverfahrens nach sich ziehen, inklusive einer Neubewertung, ob für das Flughafenverfahren ein Haftantrag erforderlich ist.)


Flüchtlingsschutz in der EU sicherstellen – keine Auslagerung in Drittstaaten
Die größte Gefahr für den Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union liegt in dem Vorschlag,
die Anwendung des Konzepts von „sicheren Drittstaaten“ auszuweiten und die Anforderungen
hinsichtlich des anzuwendenden Schutzes im Drittstaat abzusenken. Schutzsuchende könnten
dann ohne Prüfung ihrer Fluchtgründe in ein außereuropäisches Land abgeschoben werden, in
dem sie möglicherweise nicht in allen Landesteilen sicher sind oder zu dem sie gar keine
Verbindung haben. Flüchtlingsschutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention müsste dort
ebenfalls nicht gewährt werden – nach der deutschen Position soll der Schutz zwar im
Wesentlichen der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechen und eine Verbindung zu dem Land soll bestehen, gemäß anderer im Rat diskutierter Vorschläge liegen die Anforderungen an den Schutz jedoch weit unter diesem Niveau. Setzt sich ein solcher Vorschlag durch, wird dies voraussichtlich massiv die Gefahr völkerrechtswidriger Kettenabschiebungen in Herkunftsländer wie Syrien oder Afghanistan erhöhen.
Ein Missbrauch des Konzepts der “sicheren Drittstaaten”, der Menschen mit ernstzunehmenden Schutzgründen von der inhaltlichen Asylprüfung von vornherein ausschließt, lässt sich bereits unter den derzeitigen viel strengeren Vorgaben beispielsweise in Griechenland beobachten. (Siehe Offener Brief von 15 NGOs an die griechischen Asylbehörden, die Minister für Migration und Asyl und für Auswärtige Angelegenheiten sowie die EU-Kommission: “European Commission dispels Greece’s designation of Türkiye as a “safe third country” for refugees – Repeal the national list of safe third countries”, verfügbar hier.)
Die unterzeichnenden Organisationen fordern die Bundesregierung daher auf, gegen eine
Erweiterung des Konzepts der “sicheren Drittstaaten” zu stimmen.

Echte Solidarität statt Weiterführung eines gescheiterten Systems
Die anhaltende Solidaritätskrise innerhalb der EU und die unfairen Zuständigkeitsregelungen der Dublin-Verordnungen – insbesondere das Ersteinreisekriterium – führen dazu, dass
Mitgliedstaaten bestehende Regelungen nicht anwenden und versuchen, immer mehr
Verantwortung an Nicht-EU-Länder auszulagern. Die aktuellen Reformvorschläge verstärken die Schwachstellen des gescheiterten Zuständigkeitssystems. Das gilt auch für den deutschen
Vorschlag, die Zeit für eine innereuropäische Rücküberstellung an den zuständigen Mitgliedstaat von sechs auf zwölf Monate zu verdoppeln. Derartige Vorschläge verlegen mehr Verantwortung auf die Außengrenzstaaten und sind unsolidarisch. Vor allem gehen sie hauptsächlich zu Lasten der Schutzsuchenden, die noch länger auf die inhaltliche Prüfung ihres Asylantrags in der EU warten müssen. Anstatt ein dysfunktionales System neu aufzulegen, sollte an einem tatsächlich solidarischen Aufnahmemechanismus gearbeitet werden. Entscheidend für einen neuen Mechanismus der Verantwortungsteilung ist aber, dass sich sowohl die einzelnen EU-Mitgliedstaaten als auch die Schutzsuchenden darin wiederfinden können. Er muss auch die Interessen und Verbindungen der betroffenen Menschen berücksichtigen und nach Anerkennung des Schutzgesuchs innerhalb der EU frühestmöglich Freizügigkeit erlauben.
Die unterzeichnenden Organisationen fordern die Bundesregierung daher auf, gegen eine
Weiterführung des derzeitigen Dublin-Systems und für eine solidarische Aufnahme in
allen Mitgliedstaaten der EU, die auch die Bedürfnisse der Betroffenen stärker in den Blick
nimmt, zu stimmen.

Unterzeichnende Organisationen, Stand 05. Juni 2023

Bundesebene:

  • Ärzte ohne Grenzen e.V.
  • Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF)
  • Amnesty International Deutschland e.V.
  • Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein
  • AWO Bundesverband e.V.
  • borderline-europe
  • Menschenrechte ohne Grenzen e.V.
  • Brot für die Welt
  • Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – BumF e.V.
  • Bundesweite Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL
  • Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und
  • Folteropfer – BAfF e.V.
  • Der Paritätische Gesamtverband
  • Deutscher Caritasverband e.V.
  • Diakonie Deutschland
  • Deutscher Frauenrat e.V.
  • ECCHR: European Center for Constitutional and Human Rights
  • Equal Rights Beyond Borders e.V.
  • FORUM MENSCHENRECHTE – Netzwerk
    deutscher Menschenrechtsorganisationen
  • GGUA Flüchtlingshilfe e.V.
  • IPPNW e.V. – Deutsche Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung
    des Atomkriegs /Ärzt*innen in sozialer Verantwortung
  • Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV)
  • Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland
  • JUMEN e.V. – Juristische Menschenrechtsarbeit in Deutschland
  • KOK – Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
  • #LeaveNoOneBehind
  • matteo – Kirche und Asyl e.V.
  • medico international
  • misereor e.V.
  • MISSION LIFELINE International e.V.
  • Neue Richtervereinigung
  • Ökum. Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V.
  • pax christi – Deutsche Sektion e.V.
  • Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.
  • RESQSHIP e.V.
  • SOS MEDITERRANEE
  • r42 – Sail and Rescue
  • Sea-Eye e.V.
  • Sea-Watch
  • Seebrücke
  • SOS Humanity
  • terre des hommes
  • United4Rescue – Gemeinsam retten e.V.
  • World Vision Deutschland e.V

Landesebene:

  • Diakonie Baden
  • Diakonie Württemberg
  • Die Flüchtlingsbeauftragte der Evangelischen
    Landeskirche in Baden
  • Die Flüchtlingsbeauftragten der
    Nordkirche
  • Diakonie Hessen.
  • Diakonisches Werk in Hessen und Nassau
    und Kurhessen-
    Waldeck e.V.
  • Evangelische Akademie zu Berlin
    gGmbH
  • Evangelische Kirche im Rheinland
  • Evangelische Kirche in Hessen und
    Nassau
  • Evangelische Kirche von
    Kurhessen-Waldeck
  • Evangelisch-Lutherische Kirche in
    Norddeutschland
  • fluchtpunkt – kirchliche
    Hilfsstelle für Flüchtlinge, Hamburg
  • Flüchtlingsräte der Bundesländer
  • House of Resources Greifswald