Offener Brief: Kritik am SWR-Beitrag zur Ingelheimer Abschiebehaft

Die Soligruppe INGA hat eine Rückmeldung und Kritik zu einem Beitrag der SWR-Sendung „Zur Sache Rheinlandpfalz“ vom 17.10.2024 geschrieben. Im Beitrag geht es um die Ingelheimer Abschiebehaft, er ist unter dem folgenden Link zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=kptyfCBRXTU. Die Kritik wurde unter anderem an die dafür verantwortlichen Redakteur*innen gesendet. Der Flüchtlingsrat RLP e.V. schließt sich der Kritik der Soligruppe INGA zum Beitrag über die Ingelheimer Abschiebehaft an.

Der offene Brief:

Guten Tag SWR-Redaktionsteam,
bezugnehmend auf Ihren Beitrag zum Ingelheimer Abschiebegefängnis in der Sendung „Zur Sache Rheinland-Pfalz“ vom 17. Oktober möchten wir Ihnen folgende Rückmeldung geben:
Irritierend ist zunächst, dass Sie Kontakt zu unserer Gruppe (der Soligruppe INGA) gesucht haben und auch mit dem Seelsorger der Diakonie, der im Ingelheimer Abschiebegefängnis arbeitet, gesprochen haben, in dem Beitrag selbst aber davon nichts zu sehen oder zu hören ist. Das ist nicht deshalb irritierend, weil wir es wichtig fänden, dass die Perspektive unserer Gruppe vertreten wäre, sondern aus dem Grund, dass sich im Beitrag tatsächlich kein einziges kritisches Wort zur menschenunwürdigen Abschiebehaftpraxis und eine solidarische Perspektive zum Leid der Inhaftierten findet. Stattdessen bietet das Stück eine Bühne für diejenigen Akteur*innen, die eine staatliche Perspektive auf das Thema ‚Abschiebungen‘ vertreten und reproduziert und verstärkt das derzeit allgegenwärtige Narrativ „Mehr Abschiebungen = mehr Sicherheit“. Das, was im Beitrag dargestellt und gesagt wird, ist zum Großteil nicht falsch, aber wer sich mit dem Wesen von gesellschaftlichen Diskursen und der Rolle von Medien in ihnen auseinandersetzt – und wir sind uns sicher, dass Sie das tun – dem sollte bewusst sein, dass die Art und Weise, wie über Personen gesprochen wird, auch eine Wirklichkeit erzeugt.

Wie in der Anmoderation richtig gesagt wird, sind im Ingelheimer Abschiebegefängnis „ausreisepflichtige Personen“ inhaftiert. Rätselhaft bleibt, warum der Fokus im nachfolgenden Beitrag dann ausschließlich auf Straftäter*innen gerichtet ist, wenn Ihnen bekannt sein müsste, dass diese nur einen Bruchteil der ausreisepflichtigen Personen in Abschiebehaft ausmachen. Die Zahl der Inhaftierten mit einem in der Vergangenheit liegenden strafrechtlichen Verfahren im Ingelheimer Abschiebegefängnis macht eine kleine Prozentzahl aus, auch wenn sie derzeit steigend ist. Das liegt allerdings nicht unbedingt daran, dass die Zahl der Straftäter*innen gestiegen ist, sondern, dass sich das Verfahren damit verändert hat. Straftätige Ausreisepflichtige haben bereits ihre Strafe in Strafhaft abgesessen und kommen dann in Abschiebehaft bevor sie abgeschoben werden. Dass es in Deutschland ein Verbot der Doppelbestrafung gibt und dass es daher unbedingt notwendig ist, darüber zu sprechen, dass dieses Verfahren allerdings genau das tut, haben Sie nicht erwähnt.

Außerdem ist die Zahl der Ausreisepflichtigen irreführend, wenn nicht erklärt wird, wie sie sich zusammenstellt. Menschen, die in Länder abgeschoben werden sollen, die einem Abschiebeverbot unterliegen, werden dennoch zur Zahl der Ausreisepflichtigen hinzugezählt. Das gilt zum Beispiel auch für Syrien. Ohne diese Information wird das Narrativ verstärkt, dass „zu viele“ Ausreisepflichtige im Land seien, Abschiebungen „zu oft“ scheitern würden und besonders, dass Betroffene daran Schuld hätten. Lässt man die Zahl der Ausreisepflichtigen, die in Länder abgeschoben werden sollen, die einem Abschiebeverbot unterliegen, sowie andere Gründe der nicht Abschiebbarkeit, wie: Mutterschutz, die Unmöglichkeit Reisedokumente zu beschaffen aufgrund mangelnder Kooperation mit Botschaften, Krankheiten, usw., weg, fällt die Zahl deutlich geringer (19,5% „ausreisepflichtig“) aus. Eine ausführliche Einordnung dazu finden Sie beim Mediendienst Integration: https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/duldung.html .

Entscheidend für die öffentliche Meinungsbildung ist meist nicht, was tatsächlich passiert, sondern wie und in welchem Kontext es dargestellt wird. Damit meinen wir nicht, dass das Attentat von Solingen bedingungslos zu verurteilen ist und das Sprechen über Islamismus und davon ausgehende Gewalt unbestreitbar stattfinden muss. Was wir anklagen ist, dass die Migrations- und Asyldebatte „nach Solingen“ zur Brutstätte von (noch mehr) Hass und Hetze gegen Asylbewerber*innen und als migrantisch gelesenen Menschen geworden ist – und die mediale Darstellung daran einen maßgeblichen Anteil hat. Vereinfacht gesagt: Wenn nur oft genug die Begriffe „Solingen“, „Migranten“ und „Abschiebung“ nacheinander genannt werden, dann verfestigt sich der Eindruck, dass diese Themen unauflösbar miteinander verbunden seien. Ein ebenso erschreckendes wie deutliches Beispiel dafür, wie ein solcher Diskurs aussehen kann, findet sich in der Kommentarspalte unter Ihrem Beitrag auf Youtube: „Ein Abschiebeministerium und 300.000 zusätzliche Abschiebeunterkünfte sind erforderlich. So könnte Olaf Scholz die angekündigte, umfangreiche Abschiebeoffensive realisieren. Doch in der aktuellen Situation ist dies nicht umsetzbar. Danke für das Video!​​​​​​​“ ist da noch ein Kommentar der harmloseren Sorte.

Vielleicht wurde dieser Fokus in Ihrem Beitrag gesetzt, weil „das aus der Bevölkerung als Ansage“ kommt, wie es auch die Landrätin Bettina Dickes formuliert. Wir sehen es allerdings nicht als Teil des Bildungsauftrags der Öffentlich-Rechtlichen an, populistischen Forderungen nachzukommen, sondern vielmehr den Anspruch, als Korrektiv zu staatlichem Handeln zu funktionieren. Warum aber spielt dann Stefan Mollner, der Leiter der GfA Ingelheim, die Hauptrolle in ihrem Beitrag; führt uns durch die Zellen, erklärt uns, dass da ein Stuhl und ein Tisch und ein Fernseher mit 70 Kanälen steht? Warum kommen außerdem – abgesehen von den Äußerungen der Anwältin zum „Scheitern“ von Abschiebungen – nur ein Vertreter des Integrationsministeriums sowie die CDU-Landrätin Bettina Dickes zu Wort? Zwar haben wir keine radikale Kritik der deutschen Abschiebepraxis erwartet; dass aber kritische Perspektiven und vor allem Stimmen von betroffenen Menschen keinerlei Erwähnung finden, hat uns dann doch überrascht und empört gleichermaßen. Im Beitrag wird gesagt, dass Sie die Inhaftierten nicht zeigen oder mit ihnen sprechen dürfen. Mit etwas Recherche sollte es aber möglich gewesen sein, Betroffene oder Angehörige zu Wort kommen zu lassen – denn von ihnen gibt es zahlreiche. Der Flüchtlingsrat Rheinland-Pfalz zum Beispiel macht dazu sehr wichtige Arbeit. Zudem gibt es in einer Broschüre des ökumenischen Hilfswerk Beiträge, in denen Stimmen von Inhaftierten enthalten sind und auf die Sie Bezug hätten nehmen können (https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2022/08/Broschuere21x21-11web-Neu.pdf).

Darüber hinaus gibt es weitere Kritikpunkte, die wir hier stichwortartig aufgeführt haben:

– „Ausnahmsweise darf hier eine Kamera rein“ –> keine Kritik daran, dass es kaum öffentlichen Blick ins Gefängnis gibt, der Haftbedingungen überprüfen kann

– Was bedeuten Haftgründe? Laut Beitrag: „Menschen, die sich der Abschiebung entzogen haben oder vermutlich entziehen werden“. Was heißt das im Einzelfall? Wird so dargestellt, dass die „überlastete Ausländerbehörde“ in Zusammenarbeit mit Gerichten keine andere Wahl hätte. Was ist mit Anwält*innen? Einem fairen Verfahren? Wegen Vermutungen von Behörden kommen Menschen ins Gefängnis – das müsste auf jeden Fall kritisch eingeordnet werden!

– Besondere Betonung auf Menschen, die in Einzelhaft auf geschlossenen Flur sind und „besonders problematischer Fall“ Tarek J. Hier wird wieder der Fokus auf straffällige Asylbewerber*innen gelenkt und es entsteht der Eindruck, als wäre die Haft angemessen und ein legitimes Mittel zur Gewährleistung der Abschiebung.

– Abschiebungen sind nur in Kooperation des Staates, in den abgeschoben werden soll, möglich. Das bedeutet, dass deutsche Behörden im Falle von Afghanistan unter der Vermittlung von Katar, mit den Taliban zusammenarbeiten. Abschiebungen nach Afghanistan im Kontext des Beitrags über Abschiebeknast könnten nochmal mehr den Eindruck der Legitimität der Abschiebehaft erwecken, „einige werden direkt aus deutschen Gefängnissen abgeschoben“ macht nicht ersichtlich, dass es sich bei Gefängnissen und Abschiebehaft um eigentlich zwei deutlich unterscheidbare Institutionen handeln sollte. Wir fragen uns, warum Sie das nicht kritisch eingeordnet haben?

– Die Gründe der Anwältin, weswegen Abschiebungen doch nicht durchgeführt werden können, werden wie Hindernisse aufgezählt. Dabei sind das Grundrechte, die jedem Menschen zustehen und die legitim sind.

– Etwa die Hälfte aller angefochtenen Abschiebehaft-Entscheidungen erweisen sich im Nachhinein als rechtswidrig. Eine Benennung dieses Missstands vermissen wir in fast allen Debatten über Abschiebehaft und so auch in Ihrem Beitrag. Entsprechende Quellen hatten wir Ihnen geschickt.

– Die Aussage der Landrätin: “ … auch in Bezug auf das was sie [die Bundesregierung] aus der Bevölkerung als Ansage bekommen hat: Menschen, die hier Asylrecht haben, dürfen bleiben. Menschen, die es nicht haben, müssen abgeschoben werden.“ Diese Aussage verdeutlicht, wie sich Politiker*innen aus der Verantwortung und ihren Entscheidungen ziehen wollen, denn wenn die Bevölkerung wirklich ein direktes Mitspracherecht in diesem Zusammenhang hätte, würden zivilgesellschaftliches Engagement für Bleiberecht von Personen erhört und Möglichkeiten geschaffen werden, dass Menschen bleiben können.

Wir haben Ihren Beitrag auch an die neuen deutschen Medienmacher*innen gesendet, die uns für Ihre Redaktion folgende Hinweise empfohlen haben: https://neuemedienmacher.de/wissen-tools/falschinformationen/. Dabei haben Sie insbesondere das Narrativ von „Migrant*innen sind ein ‚Sicherheitsrisiko'“ bedient, das Sie durch die fehlende Einordnung der Abschiebehaft als Verwaltungsakt und nicht als Strafhaft verstärkt haben.

Wir hoffen, dass Sie sich diese Kritik zu Herzen nehmen und der nächste Beitrag nicht einfach nur rassistische Narrative bestärkt.

Soligruppe INGA

Website Soligruppe INGA: https://soligruppeinga.blackblogs.org/
Instagram: @soligruppe_inga

Damit die Rückmeldung mehr Aufmerksamkeit bekommt und die Kritik der Soligruppe ernst genommen wird, wurde die Kritik als offener Brief verfasst. Wer Lust hat, die Kritik mit zu tragen und weiter zu streuen, darf dies gerne tun.